Volksparteien ohne Volk: Das Versagen der Politik by Hans Herbert von Arnim
Autor:Hans Herbert von Arnim [Arnim, Hans Herbert von]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Politik & Geschichte, Deutsche Politik, Politisches System, Gesellschaft
ISBN: 9783570100110
Google: pRK3PwAACAAJ
Herausgeber: Bertelsmann
veröffentlicht: 2014-12-28T05:00:00+00:00
Freie Wähler
Im Herbst 2008 schafften die Freien Wähler zum ersten Mal den Einzug in ein deutsches Landesparlament, und das gleich mit einem zweistelligen Ergebnis im zweitgrößten Bundesland. Kaum etwas signalisiert die Unzufriedenheit mit den Parteien deutlicher als dieses Ereignis. Das Terrain der Freien Wähler sind ja eigentlich die Gemeinden. Dort sind sie den Parteien strukturell überlegen, weil sie sich jeweils auf die spezifischen Probleme vor Ort konzentrieren und nicht dem Zentralismus der landes- und bundespolitisch organisierten Parteien unterliegen, der dazu tendiert, Unterschiede einzuebnen (siehe S. 290 f.). Auf höherer Ebene fehlen ihnen dagegen eine schlagkräftige Organisation und die einheitliche Linie, die aus dem unbedingten Willen zur Macht entstehen und für Parteien charakteristisch sind. Dass die Freien Wähler es in Bayern dennoch geschafft haben, liegt natürlich auch am desolaten Zustand der CSU in der Endphase der Stoiber Ära und den anschließenden Auseinandersetzungen um die Erbfolge (siehe S. 210f.), die viele CSU-Wähler zu ihnen wechseln ließen. Freie Wähler sind im Kern bürgerlich und in Bayern typischerweise »Fleisch vom Fleische der CSU«. Zudem hatten die Freien mit Gabriele Pauli ein bundesweit bekanntes Gesicht, an dem sich der Protest gegen das traditionelle Allmachtsgehabe der CSU festmachen konnte.
Die Freien begründen ihr Ausgreifen auf die Staaten- und Europaebene damit, dort würden wichtige kommunalpolitische Fragen vorentschieden, sie müssten also im Interesse der Gemeinden dort mitwirken. Dieses Argument hat viel für sich. Die Kommunen drohen in der Tat von oben her ausgehungert zu werden (siehe S. 290 ff.). Andererseits dürften kommunale Wählergemeinschaften, wenn sie sich auf höherer Ebene betätigen, den Parteien mit der Zeit immer ähnlicher werden. Damit droht ihnen der Verlust gerade der Eigenschaften, die sie in den Kommunen stark gemacht haben. Dementsprechend gespalten sind die Auffassungen innerhalb der Wählergemeinschaften. Der Landesverband Baden-Württemberg, wo die Wählergemeinschaften seit jeher die größten Erfolge einfahren, lehnt eine Kandidatur bei Landtagswahlen und erst recht bei Bundestagsund Europawahlen strikt ab. Er fürchtet, die Freien würden dadurch »ihre Seele verkaufen«.
Kaum eine Organisation aber kann die Mängel des Parteienstaates derart nachhaltig kritisieren und gleichzeitig Druck auf Abhilfe ausüben wie die Freien Wähler. Denn sie nehmen den Etablierten Macht, Posten und Mandate, die diese bisher unter sich aufgeteilt haben. Diese »Gefahr« zwingt die politische Klasse vielleicht am ehesten dazu, die überfälligen Reformen unserer demokratischen Infrastruktur endlich in Angriff zu nehmen. Insofern ist das Experiment, welches die Freien Wähler wagen, auch aus der übergeordneten Perspektive der Demokratiesicherung von größtem Interesse.
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